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Perspective

Von Shangkirchen nach Gelsenhai – es lebe der Gegensatz und das Missverständnis!

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Von Shangkirchen nach Gelsenhai – es lebe der Gegensatz und das Missverständnis!

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Anlässlich der Konferenz Cross Culture Branding, Design und Markenkommunikation für internationale Märkte, veranstaltet vom Design Center Stuttgart im Juni 2011, hat Markus Wild in einem sehr persönlichen Beitrag seine „chinesische Geschichte“ erzählt. Sie ist heute genau so aktuell wie damals und deshalb bekommt sie hier eine späte Erstveröffentlichung im Netz.

Mit dem ersten Kunden „auf nach Hong Kong“!

Eigentlich fing alles vor 20 Jahren in Hong Kong an. Die Faszination für Asien, für China, für die Chinesen, für das Andere. Ich durfte, als frischgebackener Diplomdesigner meinen ersten Kunden auf eine Reise auf die andere Seite des Globus begleiten. Ebendiesen Kunden, einen kleinen Kunststoff-Spritzgießer für technische Teile, hatte ich gerade erfolgreich von dem Vorhaben abgebracht, als erstes eigenes Produkt eine Philips Taschenlampe nachzubauen und statt dessen ein „noch nie dagewesenes Produkt“ zu entwickeln: eine Stoppuhr für Manager! Man erinnert sich: Damals, Anfang der 90er, waren Systeme zur Zeitplanung der Hit und ich mutmaßte trotz fehlnder Marktkenntnis, dass ein Count Down Timer – also praktisch eine Eieruhr – genau das richtige sei für die designverliebten Zeitoptimierer.

Also, Count Down Timer gestaltet, „Time Tool“ genannt; Kunde begeistert, teures Werkzeug gebaut, Musterteile abgespritzt – noch ein extra kompliziertes Material namens „Heavy Valox“ eingesetzt, ein mineralgefüllter Thermoplast, der sich kühl und mineralisch anfühlt, aber zu Schlierenbildung neigt – das „Masterbadge“ (Farbbeimischung zum transparenten Grundmaterial) für die transluzente Farbe der Tasten exakt auf „opal“ getrimmt… . Wo kriegen wir jetzt die Elektronik her? In Deutschland damals nicht für ein vertretbares Budget zu machen. Also die Idee geboren, die Elektronik aus Fernost zu besorgen. Kunde spricht kein Englisch, schon bin ich als Dolmetscher (und Designer) mit von der Partie.

Kurzentschlossen in den Flieger gesetzt und nach Hong Kong gedüst. Hong Kong bei 32 Grad Ende November, schon sehr eindrucksvoll. Nach einer Stunde Urwaldzug kamen wir an einer DDR-ähnlichen Grenze in Shenzhen an, auch ähnliche Grenzübergangsprozedur. Dann stand man auf einer Sandpiste umgeben von wuseligem Leben aus Garküchen, Kakerlaken und Katzen. Wir stiegen in ein klappriges Taxi, das wir für umgerechnet 10 DM den ganzen Tag haben durften, umkurvten dutzende, 5 Meter hoch mit Plastikflaschen und Strohballen beladene, Fahrräder und kamen nach zwei Minuten auf eine achtspurige Autobahn, vorbei an nagelneuen Banken-Wolkenkratzern. Das war wirklich eindrucksvoll! Man mag es heute nicht mehr glauben, aber eine Woche hat uns gereicht, um aus den tausenden Uhrenherstellern in Hong Kong den einen herauszufinden, der an unserer Ministückzahl von 10.000 Stück Interesse hatte und uns nicht übers Ohr hauen wollte. Kundenspezifisches LCD (Liquid Crystal Display) und PCB (Printed Circuit Board, fachsprachlich für Leiterplatte) aufgesetzt (in Deutschland damals nicht zu bezahlen) und acht Wochen später war die Fuhre auf dem Schiff. „Geht doch“, dachten wir.

Time Tool, das erste in China produzierte Produkt von WILDDESIGN 1990

Zusammengebaut werden muss es ja auch noch.

Okay, Heimarbeiter gibt es auch in Deutschland. Und dann waren sie endlich fertig, nach nur 6 Monaten Entwicklungszeit, „24/7“ – „rund um die Uhr“: 10 Paletten supergeile, top verpackte „Time Tools“, fertig um die exklusive Zielgruppe zu erfreuen. Das nächste Problem bahnte sich an: Gutes Design verkauft sich nicht von selbst! Irgendwann muss man diese Erfahrung mal machen. Bei mir kam sie gleich im ersten Job. Nach zwei weiteren Monaten und ca. 20 im Bekanntenkreis mühsam verkauften Tools kam ich auf die glorreiche Idee, meinem Kunden eine Rechnung über die zugesagten Provisionen der geplanten Verkaufsmenge zu schicken; – das kam nicht gut. Immerhin hatte das Teil zwischenzeitlich einen -> IF design award (International Forum Design) gewonnen, das sollte doch eigentlich die Lizenz zum Gelddrucken… oder doch nicht?

Es musste also ganz dringend was passieren, sonst wär’ mein Kunde pleite und ich blank. Also versuchte ich mich notgedrungen als Verkäufer. Und auch hier wieder der Beweis: Als Designer muss man Generalist sein – es gelang, innerhalb weniger Wochen gut 6.000 Stück zu verkaufen. 1.500 Stück an das iF als Give-Away, den Rest in großen Chargen an Werbemitteleinkäufer. Projekt gerettet, Erinnerungen auf der Habenseite abgespeichert. Diese Geschichte musste einfach mal erzählt werden.

Hat die Geschichte überhaupt etwas mit unserem Thema zu tun? Mit Cross Culture Branding oder Cross Culture Design? Für mich steht sie für Cross Culture. Ohne die andere Kultur wär’ das Projekt gleich nach der Designentwicklung gescheitert und meine Karriere hätte mit einer Negativerfahrung begonnen. Die Fremdheit, gepaart mit der Abenteuerlust, sich auf die neuen Einflüsse EINZU-lassen, sich auf die fremden Menschen gar zu VER-lassen, machten das Projekt zum Erfolg. Und im Erfolg offenbarte sich der Charakter von Cross Culture: er ist kurzfristig, extrem dynamisch und quasi das Gegenteil zur guten deutschen Bodenständigkeit (von der ich einen guten Teil in meinen Genen habe).

Cross Culture – Gegensätze ziehen sich an

Wie kann ich am Besten vermitteln, was das Kreuzen der Kulturen bedeutet und hervorbringt? Dem Phänomen sollte man sich nicht nur akademisch widmen, sondern mit Haut und Haar oder mit Leib und Seele. Man muss es selbst erfahren. Cross Culture bezieht seinen Wert aus der Faszination der Andersartigkeit, aus der Polarität der Lebensumgebungen. Wenn wir schon bei Polaritäten sind: 15 Jahre später schlägt der Cross Culture Virus dann zum zweiten Mal zu. Nach 15 Jahren guten deutschen Designs mit einer ansehnlichen Reihe von Designpreisen, moderatem Wachstum und ordentlichem Ansehen in der deutschen Design-Community. Das zweite und wirklich wilde China-Erlebnis verdanke ich ebenfalls einem Gegensatz – meinem Partner bei WILDDESIGN, Gerhard Seizer.

Chinapläne waren 2005 schon ein Stück weit gediehen (das wäre eine längere Geschichte), aber es fehlte der Mann, der es vor Ort auch schaffen könnte, den Geist von WILDDESIGN in der Fremde wirksam zu verkünden. Gerhard kam mir vom Gelsenkirchener Bahnhof entgegen. Knöchellanger Matrix-Ledermantel, schwarze Klamotten eines unbekannten Modelabels (hatte er selbst in Shanghai schneidern lassen), spitze schwarze Krokodilschuhe. Vom ersten Augenblick an wusste ich, dass DER es schaffen wird. Soviel zum Thema Andersartigkeit und Vertrauen. Spaßeshalber kreierten wir das Label „crazy & wild“, wobei wir heute immer noch darüber streiten können, wer jetzt wer ist.

Für mich ist Cross Culture Branding die uralte Geschichte von „Gegensätze ziehen sich an“. In der Sache liegt ein emotionaler Reiz, der weit über das hinausgeht, was Profis in Design und Marketing in Punkto Emotionen professionell kanalisieren können. Nehmen wir die Menschen, die Chinesen. Klein sind sie, sehr klein. Aber freundlich, herzlich. Es ist erstaunlich, dass man in einem solchen Umfeld, wo man denkt, alle wollen einen übers Ohr hauen, so viel Spaß und echte Freundschaft im Geschäft haben kann. Auch das ist Cross Culture: miteinander und aneinander Spaß haben. Die Inspiration kommt gratis dazu. In China hält man alles für möglich.

Nehmen wir die Farben. China ist rot und gold. Rot ist überhaupt die Farbe, die wie keine andere für China steht. Das allein erklärt nicht nur die Affinität der Chinesen für den red dot, sondern rot ist eigentlich überall und wirkt unmittelbar auf das limbische System. Genau deshalb haben wir auch GRASGRÜN als Corporate Color für unser Unternehmen gewählt. Unlogisch? Grün bedeutet „billig“ in China. Na und? Rot und gold machen alle – das soll besonders sein? Glaubt es oder nicht: das saftige Gras in unserem Corporate Picture hat Roland, unser erster deutscher Praktikant im China-Office, mitten in Shanghai fotografiert. Heute arbeitet er bei uns in Gelsenkirchen. Das -> Gras wird geliebt von unseren chinesischen wie europäischen Kunden, obwohl keiner es 100%ig versteht – muss auch nicht.

Mehr gegensätzliche Geschichten

Ein paar Geschichten zu unseren Kunden, ohne indiskret zu werden. Deutsche Premium- oder Luxusmarken sind hip in China. So auch -> Fissler. Wer aber jetzt denkt, dass die Chinesen Fissler in traditionell schwarzwälder Idylle (dem in China viel zitierten Stereotyp deutschen Brauchtums) mögen, der irrt, bis auf das „schwarz“. Der an sich schon verrückte „Diamond Pot“, ein mit Diamanten besetzter Kochtopf für ein paar hunderttausend Euro, wird in China mit Unterstützung unseres Shanghaier Teams präsentiert: Glamour pur, übertriebener Gestus und Luxus? Hier passt es!

Oder nehmen wir -> BeWell. Das Hongkonger Start-up-Unternehmen wurde aus einem mittelgroßen Spielwarenhersteller ausgegründet. Bisheriges Produkt: Transformers – Technospielzeug. Da gibt es eine Menge Know-how, das der visionäre Geschäftsführer Raymond Lo für einen ganz anderen Bereich nutzen will: Life Science Produkte. Die lässt er in Deutschland bei uns gestalten und entwickeln und sogar noch assemblieren, damit es ein „Made in Germany“ gibt. Er schafft die Gehäuseteile aus Südchina nach Darmstadt zur Montage. Das Design kommt aus Gelsenkirchen. Hört sich etwas verrückt an?

Es lebe das Missverständnis

Heute steht im Allgemeinen das VERSTEHEN hoch im Kurs, wird viel von blindem Verständnis und gleicher Wellenlänge geredet. Sie soll angeblich die Grundvoraussetzung dafür sein, dass es klappt, mit dem Business, dem Leben, der Liebe. Daran glaube ich persönlich nicht. Ich habe in China dutzende schönster Missverständnisse erlebt, die allesamt gut endeten. Nicht weil ich Glück hatte, sondern weil alle Beteiligten nicht davon ausgingen, dass das exakte Verständnis das Allerhöchste ist. Man ist tolerant gegenüber Missverständnissen, man kalkuliert sie mit ein, man amüsiert sich darüber und bezieht Inspiration und persönliche Verbindung daraus. Fehlertoleranz par Excellence. Kann es so etwas in Deutschland geben?

Unser steifes, gerades, ästhetisches Design. Es profitiert von der Konfrontation mit dem Osten. So z.B. wie Gerhard Seizer es gemeinsam mit Partnerin Klara Sibeck in seinem Sabbatjahr gemacht hat. Abseits der etablierten Designhochburgen haben die beiden nach der Verschiedenartigkeit der Kulturen im Alltäglichen gesucht. Nach seinen ersten drei Jahren als Geschäftsführer des Büros in Shanghai hat er sich auf die Suche begeben, hat seine Zelte abgebrochen und ist Nomade geworden. Auf ihrer beinah einjährigen Reise durch China, die innere Mongolei, die ehemaligen Sowjetrepubliken über Russland, Skandinavien, Türkei, Iran bis nach Indien. Überall haben sie Design gefunden und überall gab es ein komplett anderes Verständnis davon, was Design bedeutet. Seine Erkenntnis: Unsere hochkulturelle Ansicht über Design ist in den meisten Ländern unerheblich. Geht man aber in die Länder und taucht ein in die Örtlichkeit, dann beginnt ein Austausch, wie er spannender nicht sein könnte.

Erste Videokonferenz der beiden Büros aus der Gelsenkirchener Perspektive 2006

Neugier auf beiden Seiten

Oder nehmen wir die verschiedenen Mitarbeiter unserer beiden Büros. „Team-Members“ nennen wir sie. Chinesen im Gelsenkirchener Team und Europäer im Shanghaier Team – „Shangkirchen“ und „Gelsenhai“. Das bringt die schönsten Missverständnisse und erstklassige Kreativität. Sehr persönliche Sichtweisen, aber wir sind froh, dass wir sie einbringen können. Wie im globalen Rahmen sich die Kulturen annähern müssen, so geschieht dies auch bei uns in den Büros. Die Neugier war auf beiden Seiten sehr groß, bei der ersten Video-Live-Schaltung der Büros untereinander. Wir schaffen Gemeinsamkeiten unter anderem dadurch, dass beide Büros einen sehr ähnlichen Charakter haben. Aus dem möbliert übernommenen leeren Büro in der Chang Ping Lu ist inzwischen ein gemütliches Loft geworden, das Kunden wie Mitarbeiter lieben. In Gelsenkirchen sieht es genau so aus – großer Raum, gleiche Tische und die selben grünen Stühle. Corporate Identity en passant.

Noch eine interessante Erfahrung haben wir gemacht. So spannend eine Metropole wie Shanghai auch sein mag, man braucht trotzdem ein Zuhause, einen Rückzugsort. In der Anfangszeit war zu spüren, dass Praktikanten und frisch eingereiste Mitarbeiter große Anlaufschwierigkeiten hatten. Seit wir unsere WILDDESIGN Wohngemeinschaft für Praktikanten haben (manchmal auch für Inhaber), ist dies ein besonderer Ort und Treffpunkt für das gesamte Team geworden. Hier werden regelmäßig nationale Kochabende veranstaltet, um die verschiedenen Heimatländer kennen zu lernen, angefangen vom finnischen Grafiker der Kalakukko (traditionelles Gericht der finnischen Region Savo: in Brot gebackener Fisch) bereitet, bis hin zur Interior Designerin aus Malaysia die Nasi Lemak (Reisgericht, das sowohl zum Frühstück wie zu anderen Tageszeiten gegessen wird) vorkocht. Gerade entsteht das Pendant dazu in Gelsenkirchen – > die WILDDESIGN Wohngemeinschaft mitten im türkischsten Teil der Stadt, damit die kulturellen Qualitäten des Ruhrgebiets auch in alle Welt transportiert werden können. Wir freuen uns auf weitere Gegensätze und Missverständnisse im Dienste einer hohen Designqualität und unserem Spaß an der Arbeit.

Wenn Sie bis hierher gekommen sind, lohnt es sich auch, noch weiter zu lesen:

-> Markentransfer auf Chinesisch – Interview mit Gerhard Seizer

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Häufig gestellte Fragen

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