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WILD How

Medizinprodukte richtig entwickeln – mit Usability und Design

WILD How

Medizinprodukte richtig entwickeln – mit Usability und Design

Der Original-Artikel erschien im November 2015 in der Fachzeitschrift MTD (Medizin-Technischer Dialog)

Marc Ruta (l.), Michael Engler (r.)

Autoren:
Marc Ruta, Dipl. lndustrial Designer, Wilddesign GmbH & Co. KG (Gelsenkirchen, München),
Michael Engler, Dipl.-lnformatiker (FH), Michael Engler IT-Consulting (Essen)

Zeitdruck, verschiedene Sprachen, Verschiedenheit der Bedienkonzepte, eine wachsende Menge zur Verfügung gestellter Informationen – während jahrzehntelang mächtige Vertriebsmaschinerien den Erfolg in den globalen Medizintechnik-Märkten garantieren konnten, ändern sich unter der zunehmend wahrgenommenen Gefährdung durch falsche Bedienung sowie dem allseits spürbaren Kostendruck die Strategien und es kristallisieren sich zwei neue Erfolgsrezepte heraus:

1. Usability – führt zu sicheren und für den Gebrauch tauglichen Produkten.
2. Design – führt zu einfachen, smarten und attraktiven Produkten.
Kombiniert mit einer soliden und kostenorientierten Entwicklung können diese beiden Faktoren gerade in der Medizintechnik überlegene Produktkonzepte gestalten, die von den Märkten mit offenen Armen aufgenommen werden.

Warum Usability?

Die Gebrauchstauglichkeit (Usability) nimmt heute einen zentralen Stellenwert im Medizinprodukt-Entwicklungsprozess ein und beschreibt per Definition der ISO 9241-ll den Erfüllungsgrad, mit dem Nutzer ihre Ziele effektiv, effizient und zufriedenstellend erreichen. Weitere wichtige Aspekte kommen durch die User Experience (Anwender-Erfahrung) hinzu – es soll auch eine gewisse Freude bereiten, das Produkt nicht nur im Rahmen der Zweckbestimmung zu nutzen, sondern auch vor und nach dem Einsatz als positives Erlebnis zu empfinden.
Dass ein gutes Usability-Design auch handfeste Vorteile wie schnellere Kaufentscheidungen mit sich bringt, ist eigentlich einleuchtend, aber oftmals nicht bewusst. Zudem können Hersteller glaubhaft darstellen, dass die Produktivität der Anwender steigt oder der Schulungsaufwand reduziert wird. Dies sind Dinge, die ein Kunde definitiv honoriert.

Anforderungen und Ziele der Nutzer erkennen

Dafür wurde inzwischen ein eigener Beruf geschaffen: der Usability-Engineer. Denn auch wenn sich die Entwickler in ihren Laboren aufgrund ihrer Erfahrungen alle Mühe geben, die Verhaltensmuster der Anwender vorauszusehen, so werden sie die Erfordernisse der Anwender ihres Produktes kaum verlässlich vorhersagen können, ohne selbst jemals mit den Anwendern gesprochen oder ihnen bei der Ausführung des vorgesehenen Bedienablaufs zugesehen zu haben. Damit anwenderbezogene Bedürfnisse und Notwendigkeiten effektiv ermittelt werden können und ein Hersteller Wettbewerbsvorteile erzielen kann, ist ein methodisches Vorgehen anzuwenden.

Der Usability-Engineering-Prozess

Für Medizinprodukte ist ein Usability Engineering-Prozess normativ vorgeschrieben, da Fehlbedienungen zu Verletzungen oder in extremen Fällen auch zum Tod des Patienten führen können. Einen rein auf Sicherheit fokussierten Usability Engineering-Prozess schreibt die harmonisierte Norm IEC 62366:2007 vor, die eng verzahnt ist mit der Risikomanagement Norm ISO 14971. Der Usability-Engineering-Prozess ist von Herstellern oft wenig geliebt, da das nötige Wissen im Unternehmen nicht vorhanden ist.
Um zusätzlich den Nutzen und auch Lücken der rein auf Sicherheit fokussierten Norm auszugleichen, können Hersteller die ISO 9241-210 heranziehen. Wie alle Schritte in einem Produktentstehungsprozess müssen die Aktivitäten des Usability-Engineering-Prozesses geplant werden, damit ausreichend Zeit und Ressourcen zur Verfügung stehen.
Als Erstes analysiert der Usability Engineer den Nutzungskontext, der die Nutzer, deren Aufgaben, Arbeitsmittel und die relevante Umgebung umfasst. Beispiele hierfür sind das Stellen einer Diagnose, die Durchführung einer Operation, die Ausbildung der Nutzer, die Durchführung einer Therapie in privater oder klinischer Umgebung, die Berücksichtigung weiterer Medizinprodukte oder Werkzeuge etc.

Erfahrungen der Anwender sind wichtig

Dieses Wissen haben oft nur Patienten oder medizinisches Personal, die das Produkt unmittelbar erleben und anwenden. Es ist dabei essenziell, die richtigen Personen effizient zu befragen bzw. bei der Aufgabenerfüllung zu beobachten. Erst wenn diese Erkenntnisse vorliegen, können Usability Engineers die Erfordernisse der Nutzer ableiten und die Nutzungsanforderungen festlegen. Somit entstehen belastbare Anforderungen, die während der Entwicklung und im Design umzusetzen sind.

Rolle des Produktdesign

Kein Anwender wünscht sich ein kompliziertes Produkt! Einfachheit und Ordnung sind zwei der Grundprinzipien für gutes Design. Diese sind zwar in keiner Norm geregelt, aber auch die sog. weichen Produktfaktoren tragen entscheidend zur Akzeptanz der Produkte bei. Medical Design und Usability Design sind hier Teildisziplinen der zeitgemäßen Medizinprodukteentwicklung und müssen effektiv in den Entwicklungsprozess eingebunden werden.
Der Produktmanager muss die Grundlage definieren können, auf welcher der Medical Designer seine Vorschläge erarbeitet. Anforderungsmanagement ist das Schlüsselwort. Eine effektive Methode aus unserer Praxis sind die „24 Designfaktoren“, mit denen nicht nur die technischen, normativen und vom User geforderten Aspekte ergründet werden, sondern ein ganzheitlicher Blick in die Zukunft des neuen Produkts im Kontext der Marke geworfen werden kann.

Designer als Vermittler

Der Designer ist hier als interdisziplinärer Vermittler tätig: Forschung & Entwicklung liefert die technologischen Vorgaben, die dem Produkt die Berechtigung als Innovation geben. Marketing wird Benchmarks benennen, die stellvertretend für das Zielsegment sind, und der Kliniker wird Anforderungen aus Nutzersieht mithilfe des Usability Engineers formulieren. Welche Faktoren sind noch für das Design eines Medizinproduktes verantwortlich?

Andere Denk- und Sichtweisen

Indem der Designer die Sicht auf vorhandene Denk- und Handlungsmuster freimacht, schafft er neue Sichtweisen auf bereits gelöste oder auch ungelöste Fragestellungen. Möglichst früh sollte er deshalb ins Vorhaben einbezogen werden, denn er kann die Trends des Marktes, die Kommunikationsabsicht der Marke und die Bedürfnisse der Benutzer zu einer begreifbaren Vision zusammenfassen und die Produktidee visualisieren, an der sich alle Beteiligten orientieren können. Zum Beispiel spielt heute die „Intelligenz“ der Produkte eine vorrangige Rolle, weil die User vom gewohnten Umgang mit ihren privaten Smart Devices auf die Bedienung und die Intelligenz der medizinischen Geräte schlussfolgern.
Aber auch Vorgaben aus dem Marketing und dem Markt haben Einfluss auf das Erscheinungsbild eines Produktes. Neben einer möglichen Vorgabe durch das Corporate Design einer Marke können wirksame Patente dem gewünschten Gerätekonzept entgegenstehen. Auch Technologien unterliegen der Akzeptanz der Anwender und können attraktive Designentwürfe scheitern lassen, wenn diese der Erwartungshaltung hinsichtlich Größe, Materialbeschaffenheit, Lautstärke, Gewicht, Vibration, Flexibilität etc. nicht entsprechen.

Beispiel einer erfolgreichen Produktentwicklung: Mehrfach für gutes Design und Usability ist das Intensivbeatmungsgerät Elisa 800 VIT von Salvia Medical ausgezeichnet worden.

Studien während der Entwicklungsphase

Die Akzeplanz vieler Eigenschaften des Produktes lässt sich bereits vor dem Ende der Entwicklung prüfen. Hier helfen Usability-Studien mit Nutzern während der Produktentwicklung- sog. formative Usability-Studien. Sie geben Feedback für Entwickler und Designer, bevor es zu spät ist und ein Produkt dringend auf den Markt muss. Dies erfordert ein häufig wiederholendes Vorgehen, welches das Risiko für Fehlentwicklung erheblich senkt.

Einbindung von Design und Usability

Wenn das Entwicklungsteam und die Investoren von der Produktidee überzeugt werden sollen, kann der Medical Designer die technische Beschreibung des Vorhabens mit einer Visualisierung „greifbar“ machen und alle Beteiligten übergreifend auf das Ziel ausrichten. Danach kann es einen nahtlosen Übergang in die Konzeptstudien und die weiteren Entwicklungsschritte geben. Der Usability Engineer sollte bereits vor Beginn der Konzeptphase ins Projekt geholt werden.
Sobald die medizinische Zweckbestimmung durch Handlungen des Menschen oder den Einsatz von Werkzeugen oder Geräten eine beabsichtigte Anwendung erfordert, muss der Usability Engineer die Bedingungen dieser Anwendungen untersuchen und Anforderungen an die Gestaltung dieser Prozesse und Geräte formulieren, die eine sichere und zufriedenstellende Benutzung gewährleisten.

Auch Software einbeziehen

Das trifft in zunehmendem Maße immer mehr auf die Software-Entwicklung zu. Die IEC 62304 sieht vor, dass die Anforderungen an die Usability in die Software Entwicklung einfließen – aber auch die Anforderungen aus der Wartung, Lagerung, Installation sowie Transport und Entsorgung sind normativ zu ermitteln.
Alle beteiligten Disziplinen müssen ihre Anforderungen an die Entwicklung wirkungsvoll formulieren und einfordern, um ein erfolgreiches Medizinprodukt entstehen zu lassen. Usability Engineer und Medical Designer werden zu zentralen Gestaltern in diesem Spannungsfeld.

Artikel erschien in der Fachzeitschrift MTD (Medizin-Technischer Dialog),
Ausgabe November 2015

-> zur Salvia Medical case study

-> mehr zum Thema Usability

-> mehr zum Thema Medical Design

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Autor
Markus Wild
Markus schreibt über Design- und Innovationsmanagement, Kreativitätsmethoden, Medical Design und Intercultural Branding.

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